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![]() Sylvia Egger [Email-Interview, May 2004] >> english
> Hast du genügend Zeit?
ich habe nie genügend zeit - weder für meine künstlerische arbeit noch
für meine lohnarbeit. falls mit genügend ausreichend zeit gemeint sein
sollte, fehlt mir immer ausreichend zeit, um meine projekte genauer
auszuarbeiten und inhaltlich bis zu jenem punkt zu vertiefen, der für
eine diskursive praxis normalerweise notwendig wäre. aber diesen
"maximalen", diskursiven punkt erreiche ich leider nie in meinen arbeiten.
> Wie nutzt du freie Zeit?
> Wie wirkt freie Zeit auf deine künstlerische Arbeit?
da müsste zuerst definiert werden, was mit freier zeit gemeint ist. wenn
damit jene zeit gemeint ist, die uns - wir bemühen hier mal adorno - in
der kulturindustrie von der produktion trennt und uns in der konsumption
als arbeit wieder einholt, dann bliebe uns nur die arbeit an den
nachbildern (adorno) des arbeitsvorgangs (1).
für mich lässt sich lohnarbeit und freie zeit somit nicht mehr trennen.
das neue "lumpenproletariat" (lazzarato)(2) zeichnet sich gerade dadurch
aus, dass es ständig arbeitet und somit freie zeit oder amusement
(adorno) zu einer verlängerung der arbeit im postfordismus geworden ist.
auch wenn für das lumpenproletariat von heute nicht mehr die flucht vor
mechanischen arbeitsprozessen kennzeichnend ist, so kennt es doch die
flucht vor der flexibilität. wenn man etwa die lebensentwürfe von
minusvisionen (3) liest, lässt sich erkennen, dass es keine freie zeit als
alternativen entwurf mehr geben kann. eine alternative würde bedeuten,
dass man aus der liga spielt, also ganz im sinne von bourdieu die regeln
des spiels (4)im arbeits- und kunstfeld diskursiviert, d.h. die regeln
bewusst hinterfragt und seinen eigenen ausschluss immer wieder herbeiführt.
freie zeit bedeutet für mich. jene zeitspanne jenseits des prekären
lohnarbeitsverhältnisses zu nutzen und mich aus der liga zu spielen. ich
bin mir jedoch bewusst, dass auch ich in meiner freien zeit der
fabrikation des glücks nicht entgehen kann.
> Wie wirkt verordnetes, wie wirkt ermöglichtes Nichtstun auf dich?
es ist fraglich, ob es heute einen wirklichen unterschied zwischen
verordnetem und ermöglichtem nichtstun gibt. eines der schlagworte des
postfordismus ist ja customizing, das adornos prognose, dass sich alles
im verhältnis von arbeit und freizeit mit ähnlichkeit schlägt und somit
nicht mehr wirklich trennbar ist, quasi von der seite der freizeit her
aufrollt und verwirklicht: seid subjekte und habt individuelle wünsche
als permanente ausformung des customizing-konzeptes hat mittlerweile den
bereich der lohnarbeit mit erfasst. etwa so wie wenn man couplands
generation x (5) paraphrasieren würde: aber ein teil von dir ist auch im
einkaufswagen.
das süße nichtstun in zeiten der verordneten und ermöglichten
vollbeschäftigung - wie etwa in ray bradburys fahrenheit 451 - zeigt
genau jene kleine "abweichung" von der norm, in der ein unwillkürliches
ballen der faust schon ein hinreichendes signal für den mechanischen
hund (6) ist. in anderen zeiten hielt man das biegen des daumens für eine
möglichkeit, die ganze welt auf seiner kuppe zu tragen.
sowohl verordnetes als ermöglichtes nichtstun wären nach warhol ein
schlupfloch aus der lebenslangen sklaverei, in die uns das leben mit der
geburt verkauft hat: immer mit einem blick auf den melancholischen
zeiger. jede form von nichtstun wirkt auf mich wie jede langeweile.
beides befindet sich mehr oder weniger im einkaufswagen. spätestens an
der kasse lege ich das eine oder das andere wieder zurück. ;-)
> Duchamp, der DER Avantgardist des letzten Jhdt. hat ab 1912 nicht mehr
> künstlerisch gearbeitet und wurde vielleicht gerade dadurch immer
> wichtiger und einflussreicher. Am 11.11.64 widmete Joseph Beuys dieser
> Arbeitsverweigerung sogar eine ganze Kunstaktion: "Das Schweigen von
> Marcel Duchamp wird überbewertet". Wie erklärst du die enorme Wirkung
> von Duchamps künstlerischem Nichtschaffen? Und was für
> Schlussfolgerungen ziehst du daraus?
ich könnte jetzt schlicht so vorgehen, dass ich diese frage sozusagen am
verlängerten arm verhungern lasse und mit einem paroli von jörg
immendorf antworten, dass das "reden von beuys überbewertet wird"
(immendorf - "treffen zu ehren des dogmatischen bildes" (1989)). aber
ich werde mal das patt außer acht lassen. :-)
duchamp hat ab 1912 nicht mehr als maler gearbeitet - das ist durchaus
etwas subtiler zu verstehen als "nicht mehr künstlerisch" arbeiten. wenn
es somit ein davor und ein danach geben muss, könnte man sagen, duchamp
hat ab 1912 aufgehört als maler im künstlerischen feld zu arbeiten und
begonnen, in nicht-archivierten (boris groys) (7) feldern konzepte und
projekte zu entwickeln. mich interessiert dabei nicht, dass in der
rezeption dieses (künstlerischen) "schweigens" eine linie der abkehr von
der retinalen kunst entwickelt wurde (u.a. sol le witt), sondern dass
duchamps abkehr von der pariser kunstwelt kaum argumentativ
weiterverfolgt wurde: duchamp argumentiert im sinne von bourdieu, wenn
er seine bewusste abkehr von den regeln des künstlerischen feldes
hervorhebt - seine abscheu vor den rivalisierenden parteien und
konzepten deutlich macht(8).
er spricht eindeutig vom kunst-spiel, das etwa in new york bereits in
den 30ern wie ein börsengang funktionierte: "maler und gemälde gehen
rauf und runter wie aktien." duchamp hat sich nie vollständig aus dem
kunst-spiel verabschiedet, er hat sich immer nur für kurze zeit in das
feld begeben und sich dann wieder völlig zurückgezogen. in den
nicht-archivierten feldern hat er sich sehr wohl den jeweiligen regeln
unterworfen, sei es in seiner lohnarbeit als bibliothekar oder in seiner
schachleidenschaft. (notiz am rande: die beschreibung von duchamps
fernschachturnieren um 1935 erinnern mich stark an das frühe internet)
duchamp hat nie aufgehört, als künstler zu arbeiten, aber im feld der
malerei war für ihn schlicht kein raum des möglichen (bourdieu) mehr; es
hatte einen grad von autonomie (etwa bei den kubisten) und sättigung
(markt) erreicht, der nur zum verlassen des feldes führen konnte oder
zur uneingeschränkten anerkennung der regeln - duchamps vergleich der
kubisten mit drei affen, die nichts mehr außerhalb ihrer autonomie
wahrnehmen, führt das ready made geradezu zwingend ins archiv (boris groys).
> Lev Manovich konstatiert in "Don't Call it Art: Ars Electronica 2003",
> dass im Zentrum der Kunst seit Ende der 1960er das Konzept und nicht
> mehr das Medium oder die Technik steht (und er rechnet die Software Art
> daher dem Kunsthandwerk zu). D.h. Kunst wäre, so verstanden, im reinsten
> Sinne der vita contemplativa zuzuordnen und demzufolge ein/der
> Gegenentwurf zum aktiven Totalspektakel des Globalkapitalismus.
> Wie siehst du das?
don't call it art von lev manovich war ja eine direkte reaktion auf eine
bestimmte ausstellungs- und diskurssituation der ars electronica 2003.
im gegenzug zu etlichen anderen ausstellungen, die software art mit im
programm hatten, gab es auf der ars 2003 keine wirkliche positionierung
der software art im kunstfeld - die frage nach ihrer rolle im
künstlerischen feld wurde nicht gestellt. diesem fehlenden diskurs hat
manovich nachgeholfen, in dem er den platz im künstlerischen feld leer
gelassen und sie vor in beziehung zur computer sience gebracht hat. er
rechnet die software art nicht dem kunsthandwerk zu (es sei denn, man
würde computer sience als kunsthandwerk verstehen). sondern hebt sie in
den rang einer wissenschaft, die sich durch das erarbeiten von
prototypen und demos auszeichnet. diese positionierung hat heftige
reaktionen in der szene ausgelöst, weil software art der kunstanspruch
abgesprochen wurde und der inhaltliche, konzeptionelle teil
unberücksichtigt blieb (es sei denn, man würde demo oder prototyp als
konzept definieren).
die inhaltliche rückbindung von software art (dito: netzkunst und
ähnliches) an die konzeptkunst war eigentlich eine hilfskonstruktion, um
die neuen verhältnisse im hinblick auf das künstlerische feld einzugrenzen.
sicherlich lässt sich von duchamps ready made und seiner hinwendung zur
idee des kunstwerks (und seiner ablehnung des retinalen in der kunst;
auch eine interpretation seines schweigens - die rezeption am meisten
bestimmende), über sol le witts paragraphs on conceptual art (1967) und
seiner ablehnung der perceptual art eine linie aufmachen, die zu einer
überproportionierung von konzept und idee führt. dieser strang wird dann
gerne auch mit entmaterialisierung in zusammenhang gebracht.
eine haltbare (rezeptions-)linie lässt sich jedoch nur über die
ablehnung des retinalen verfolgen. der sensation of the eye entziehen
sich conceptual art wie "software art" und "net.art", die - wie florian
cramer (9) sehr gut festmacht - im gegensatz zur conceptual art jedoch
gerade nicht an einer entmaterialisierung arbeiten, sondern an den
unsauberen, bug-festen stellen des digitalen (das digitale an sich ist
nicht gleich entmaterialisierung). insofern ist der vergleich mit der
conceptual art nicht mehr als ein vergleich, der dort endet, wo
conceptual art geendet hat - in den großen galerien (1997 prophezeite
baumgaertel noch, dass dies der netzkunst nicht passieren würde), und
daran scheitert, dass das konzept nicht unabhängig vom dispositiv
(technik/medium) funktioniert und im grunde wieder verhältnisse und
positionierungen nachbildet (adorno).
> Es gibt eine Koinzidenz von freier Kunst und freier Software. Beide
> erhalten außer Anerkennung in der Regel kein Geld, können und werden
> aber kommerziell ausgebeutet. Bei der freien Software ist es
> eingeplant/erwünscht, bei der Kunst nicht. Wird für die Kunst zunehmend
> das Modell der freien Software gültig (völlige Quersubventionierung und
> Selbstausbeutung?). Wie ist deine Position dazu?
der gebrauch von tütensuppen sollte uns unsicher machen oder wessen huhn
und wessen ei verkaufen wir! das modell des an sozialem kapital
angereicherten künstlers bzw. künstlerischen netzwerks wird heute ja
gerne als prototyp ausgegeben, der sich seit einigen jahren im internet
als arbeiteraristokratie wiederfinden lässt: sehr gut bezahlte,
autonome, flexible zeitarbeiter, die das risiko ihrer position kennen.
die hyperausbeutung funktioniert ja genau an dieser prekären grenze
zwischen gewinn und verlust. solange sich beide die waage halten,
funktioniert das system und die illusion von freiheit bleibt aufrecht.
wenn man mit lazzarato dieses permanent surplus produzierende gefüge der
immateriellen arbeit für den bereich der freien software zu ende denkt,
funktioniert es gerade, weil es den arbeiter sowohl für die arbeit
drinnen (im kapital) als auch für die draußen (für die anerkennung in
der subkultur) motiviert - als eine bewusste strategie. das
intellektuelle proletariat über die konzerngrenzen hinaus zu schicken,
um diesen temporären austausch später wieder fruchtbar in den konzern zu
integrieren - quasi als professionelles recurving (douglas coupland).
sowohl konzerne als auch kunst arbeiten somit parallel an der
partizipation unmittelbarer gegenwart. insofern muss die rolle der
kunst, gegenwart zu transferieren, immer wieder neu überdacht werden.
womöglich bleibt nur der von lovink in den tactical media vorgeschlagene
radical pragmatism: der entscheidende 5 minuten vorsprung in den
unterschiedlichen formaten des netzwerks (10).
> Nur 3% der Künstler können von ihrer Arbeit, trotz angeblich höchster
> Wertschätzung, gut leben. Schuldet die Gesellschaft dem Künstler
> wenigstens bezahlte Ruheräume, bezahlten Urlaub?
bezahlter urlaub oder - ruheräume sind längst durch das modell der
künstlerischen förderung, bepreisung und stipendienlegung verwirklicht.
wenn mit gut leben gemeint ist, hinreichend sein auskommen zu finden,
dann würden sich die prozente eindeutig erhöhen. ich finde duchamps
konsequenz in dieser hinsicht sehr sympathisch, nur soviel zu arbeiten,
dass man hinreichend leben kann. ich würde hier abstand nehmen von
diesen subventionsenklaven und nur über modelle sprechen, die sich über
ein grundeinkommen für alle einigen (vlg. nationaldividende in gb oder
die existenzgeld-diskussionen seit den 80er jahren in deutschland) (11).
--
1 horkheimer, max/theodor w. adorno: dialektik der aufklärung, fischer 1990
2 lazzarato, maurizio: immaterielle arbeit
http://projekte.snm-hgkz.ch/1998/karin/8/media-culture/lazzarato_imm_arbeit1.htm
3 niermann, ingo: minusvisionen, suhrkamp 2003
4 bourdieu, pierre: die regeln der kunst, suhrkamp 2001
5 coupland, douglas: generation x, goldmann 1991
6 bradbury, ray: fahrenheit 451, heyne 2000
7 groys, boris: unter verdacht, hanser 2000
8 sämtliche duchamp verweise nach tomkins,
calvin: marcel duchamp, hanser 1999 und berswordt-walrabe,
kornelia (hg.): marcel duchamp. respirateur, 1995
9 cramer, florian: zehn thesen zur softwarekunst
http://www.netzliteratur.net/cramer/thesen_softwarekunst.html
10 lovink, geert: dark fiber, bpb 2003
11 vgl. dazu negri, toni: arbeit und einkommen
http://www.wildcat-www.de/zirkular/45/z45negri.htm
zur deutschen diskussion: http://www.existenzgeld.de
und http://www.grundeinkommen.de
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